Ein Lyrikspaziergang mit dem 9er G-Kurs
Der Vormittag ist neblig, nasskalt, grau – ein richtiger Novembertag. In den Gesichtern der Schüler und Schülerinnen liegt Skepsis. Der Klassenraum scheint nun doch keine so schlechte Option zu sein. Doch das Lehrerteam ist sich einig: „Genau das richtige Wetter für unseren Ausflug!“ und erntet fragende Blicke, die man auch so deuten kann, dass Lehrer und Lehrerinnen für Jugendliche unergründliche Wesen bleiben. Durch das „verbotene Tor“ am C-Gebäude geht es dieses Mal Richtung Sterkrader Bahnhof. Doch schnell wird deutlich: Heute ist der Weg das Ziel. Mit dem Notizheft in der Hand machen wir uns auf den Weg durch die Straßen unserer Stadt. Das was uns hier eigentlich schon so bekannt vorkommt, lernen wir heute ganz neu kennen. Immer wieder legen wir Pausen ein und entdecken unsere Stadt neu. Es geht vorbei an der Bushaltestelle, die uns vor Wind und Regen beschützt, aber offenbar gerade Pause hat – niemand da.
Wir erkennen nach und nach, dass das Berliner Großstadtleben aus den Gedichten ganz anders ist,als die große, leere, fast stille Straße in Sterkrade. Wir machen an leeren Klingelschildern, heruntergelassenen Rolladen und bröckelnden Fassaden Halt und fragen uns, wer hier wohl lebt oder gelebt hat. Im Kontrast dazu schauen wir uns die gepflegten Vorgärten an, bewundern die bürgerlich weihnachtlich dekorierten Fenster und werden auf stattlich gebaute Häuser aufmerksam gemacht.
Das Leben und Vergehen in der Großstadt zeichnete sich langsam ab. Die Schüler sind längt im Bann der Großstadt – die Skepsis ist verflogen, die Notizhefte werden voller, die Pausen zum „Oberhausen gucken, riechen, hören“ werden größer. Es sind die unscheinbaren Momente, die unseren Beruf so schön und das Fach Deutsch so erfüllend machen: Eine Mauer – alt, voller Risse und bis auf die Grundmauer vom harten Alltag in der Industriestadt gezeichnet, steht plötzlich vor uns. Bei genauerer Betrachtung erkennen wir, dass sie ihre Funktion verloren hat: „Die Mauer ist traurig, denn sie beschützt niemanden mehr. Man sieht es ihr an, die Risse und Falten zeigen das harte Leben in der Großstadt.“ Ein anderer Schüler berichtet: „Ich kenne das Gefühl traurig zu sein, dann hilft mir meine Freundin. Ich glaube, dass die alte Mauer mit der verwilderten Hecke befreundet ist. Wenn die Mauer niemandem mehr beschützen kann, dann übernimmt die Hecke den Job, das macht man bei uns so“. Die Mauer lässt uns nicht mehr los: Ein Schüler entdeckt ein Vogelnest in der Hecke nahe der Mauer und plötzlich ist ein Aufatmen spürbar, denn „die Mauer lebt doch!“ … und Personifikationen sind nicht länger mehr ein abstrakter Begriff.
R. Busche & A. Peschers
„Leben ohne Puls“ von Jonas Gogol
Tot
Menschen leer
Nicht lebendiges Leben
Die Natur übernimmt wieder
Leben
„Der Zechenturm lebt“ von Valentino Venn
Der eisige Wind weht um den einsamen Zechenturm
Rostiges Licht beleuchtet die alten Schienen
Unter meinen Füßen, riesige Löcher von Menschenhand geschaffen
Die Natur leidet unter den Qualen, die der Mensch ihr zugefügt hat